J. S. Bachs zweistimmige Invention Nr. 1 in C-Dur BWV 772

Entstehung und Wirkungsgeschichte

Eine musikwissenschaftliche Arbeit von Balint Dobozi im Rahmen eines Proseminars von und mit Prof. Hans-Joachim Hinrichsen an der Universität Zürich. Februar 2000.

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© 2000 by Bálint Dobozi, Zürich. Alle Rechte vorbehalten. Bei Verwendung von Teilen dieser Arbeit in wissenschaftlichen Texten erwarte ich die übliche Zitierung, z. B. "Dobozi, Bálint. J. S. Bachs zweistimmige Invention Nr. 1 in C-Dur BWV 772: Entstehung und Wirkungsgeschichte. Proseminararbeit, Universität Zürich. Zürich 2000". Es kann auch die Homepage-Location angegeben werden. Danke.


 

1. Einleitung

In dieser kurzen Arbeit über J. S. Bachs zweistimmige Invention Nr. 1 in C-Dur BWV 772 soll dem geschätzten Leser, der geschätzten Leserin das Werk unter zwei Aspekten näher gebracht werden.
Die ersten beiden Teile verfolgen die Entstehung und Rezeption dieses Werkes1. Der erste Teil betrachtet die Entstehungsgeschichte des Werkes sowie der ganzen Werkgruppe der "Inventionen und Sinfonien". Im zweiten Teil steht die Rezeptionsgeschichte von BWV 772 im Vordergrund. Dabei gehe ich im Besonderen auf die änderungen und Ergänzungen ein, die der bachsche Urtext auf seiner Reise durch die Zeit erfuhr und darauf, welche Konsequenzen solche Modifikationen für den Vortrag hatten.
Diesen Ausführungen folgt im dritten Teil eine Analyse des Werkes nach formalen, harmonischen und motivischen Kriterien, und untersucht so das Werk selbst, seinen Inhalt.

Als Johann Sebastian Bach 1717 – zu jener Zeit seit neun Jahren am Weimarer Hof tätig, hatte er sich schon drei Jahre zuvor um eine neue Stelle beworben, diese dann aber abgelehnt – von Fürst Leopold von Anhalt-Köthen das Amt des Hofkapellmeisters in Köthen angeboten wurde, sagte er zu2. Der Wechsel ging allerdings nicht ohne Komplikationen vonstatten, da der Weimarer Hof Bach nicht freigeben wollte, was in einem vierwöchigen Arrest Bachs gipfelte, aus dem er Anfangs Dezember "mit angezeigter Ungnade"3 in die Freiheit entlassen wurde.
Dem Wechsel an einen neuen Arbeitsort und zu einem neuen Arbeitgeber folgte auch eine Verlagerung des kompositorischen Auftrags Bachs4. Während er in Weimar vornehmlich Orgelwerke und regelmässig Kantaten geschaffen hatte, traten in Köthen Vokal- und Kirchenmusik zu Gunsten instrumentaler Werke in den Hintergrund. So widmete sich Bach in diesen Jahren vornehmlich der Klaviermusik, der Kammermusik und dem Konzert. Es entstanden Werke wie die Brandenburgischen Konzerte und der erste Teil des Wohltemperierten Klaviers.
Daneben setzte Bach aber auch seine pädagogische Arbeit, die er schon Jahre zuvor in Mühlhausen und Weimar begonnen hatte, fort – und diesmal galt sie, was die überlieferten Quellen angeht, der Familie.
Bach hatte 1707 geheiratet und kam zehn Jahre später mit vier Kindern5 nach Köthen. Sein ältester Sohn und "Lieblingskind"6 Wilhelm Friedemann war zehn Jahre alt, als Bach am 22. Januar 1720 ein Klavierbüchlein für ihn anlegte und darin Werke einzutragen begann, die auf den jungen Klavierschüler abgestimmt waren. Später entstanden auch zwei Klavierbüchlein für seine zweite Frau Anna Magdalena7, doch ist für mich jenes für Wilhelm Friedemann von besonderem Interesse, da darin eine erste Fassung des zu besprechenden Werkes BWV 772 enthalten ist.

2. Werkgeschichte

In jenem Klavierbüchlein für Bachs Sohn Wilhelm Friedemann finden sich neben anderen Werken 15 zweistimmige Praeambula sowie 15 dreistimmige Fantasiae. Sie sind wahrscheinlich 1722 eingetragen worden8. Ihre Anordnung ist im Blick auf die Tonartenfolge unüblich für die Zeit. Zuerst bilden die Tonarten, deren Tonikadreiklänge diatonisch zu C-Dur sind, eine aufsteigende Reihe, danach folgen in absteigender Reihenfolge jene Tonarten, deren Tonikadreiklänge alterierte Töne enthalten, darunter alle Paralleltonarten der ersten sechs Tonarten: C - d - e - F - G - a // h - B / A - g - f - E / Es / D - c.
Dieser ersten Fassung folgt die Reinschrift der Werke, die mit der Jahreszahl 1723 datiert ist. Gegenüber dem Klavierbüchlein hat Bach einiges geändert. Einerseits nennt er die zweistimmigen Werke nun "Inventiones"9 und die dreistimmigen "Sinfoniae". Andererseits kehrt er bei der Anordnung der Stücke zur üblichen Form zurück: Hier sind sie, die Varianttonarten gepaart, aufsteigend angeordnet: C - c - D - d - Es - E - e - F - f - G - g - A - a - B - h10 . Und weiter hat Bach bei der Reinschrift einige Stücke überarbeitet11.
Ausserdem ist den Stücken in der Reinschrift eine "Auffrichtige Anleitung" – Vorwort und Titel?12 – vorangestellt, die die didaktische Funktion der Sammlung herausstreicht:

"Auffrichtige Anleitung, Wormit denen Liebhabern des Clavires, besonders aber denen Lehrbegierigen, eine deütliche Art gezeiget wird, nicht alleine (1) mit 2 Stimmen reine spielen zu lernen, sondern auch bey weiteren progreßen (2) mit dreyen obligaten Partien richtig und wohl zu verfahren, anbey auch zugleich gute inventiones nicht alleine zu bekommen, sondern auch selbige wohl durchzuführen, am allermeisten aber eine cantable Art im Spielen zu erlangen, und darneben einen starcken Vorgeschmack von der Composition zu überkommen.
Verfertiget
von Joh: Seb: Bach
Hochfürstlich Anhalt-Cöthen-
ischen Capellmeister. Anno Christi 1723"13

In diesen Werken will Bach also "eine deütliche Art"14 aufzeigen, um in zwei Bereichen Fortschritte zu machen: in der Spieltechnik und der Komposition. Ersteres ist angesprochen, wenn es um das "reine spiele zu lernen" geht – zuerst mit zwei, dann, "bey weiteren progreßen", mit drei Stimmen –, und wenn "am allermeisten aber eine cantable Art im Spielen zu erlangen" ist. Die Stücke selbst sind wiederum – indem sie gespielt und studiert werden – "Vorgeschmack" und Beispiel für die "Composition" und auch dafür, wie "gute inventiones nicht alleine zu bekommen, sondern auch selbige wohl durchzuführen" sind15.
In der Fachliteratur herrscht Uneinigkeit in der Frage, wie der neue Titel der zweistimmigen Stücke, "Inventionen", sowie die in der "Anleitung" angesprochenen, durchzuführenden "inventiones" auszulegen sind16. Sollten die Begriffe Neuartigkeit der Komposition, Einfallsreichtum ausdrücken oder bezogen sie sich auf theoretische Konzepte? Zur Klärung der Frage muss eine historische Begriffsbestimmung vorgenommen werden.
Die lateinische "inventio" bezeichnete in der Lehre der Rhetorik den ersten Schritt im Prozess, eine Rede zu schreiben: "die Auffindung, Erfindung der Dinge, Gedanken, Begriffe, Themen und Motive."17 Ihr folgte in der "dispositio" die Anordnung der Fakten und schliesslich in der "elaboratio" die konkrete Ausarbeitung18 . Dieses antike Konzept wurde vor allem mit der Renaissance zur Grundlage akademischer Bildung erhoben, was sich auch in der Musiklehre niederschlug. Dabei entwickelte sich der Begriff in Richtung des formalisierbaren, förderbaren, aber letztlich nicht lernbaren musikalischen Einfalls, aus dem "durch Nachahmung und Versetzung der Stimmen die Folge eines ganzen Stücks entwickelt werden konnte"19.
Bei Bach bekommt das Wort durch die Gegenüberstellung seines Gebrauchs in der "Anleitung" mit den Werktiteln zwei Bedeutungen. "Inventio" bezeichnet nicht nur den Einfall, das durchzuführende Grundmotiv, sondern ebenfalls die in ihm enthaltene Anlage für die ganze Komposition, welche Bach schlussendlich "Inventio" nennt20. Es bleibt festzuhalten, dass er es war, der die "Invention" "erst- und einmalig zur Satzüberschrift erhoben"21 hat und angesichts der epochalen Bedeutung des Werks somit eine neue Werkgattung schuf.
Im nächsten Kapitel soll nun auf die C-Dur-Invention BWV 772 näher eingegangen werden, wobei ich zuerst die Autographen bespreche, um hernach zu den Druckausgaben und ihren Auswirkungen zu gelangen.

3. Text und Interpretation

Bach nahm bei seiner Reinschrift der "Inventionen und Sinfonien" nicht nur die Umbenennung und eine Neuanordnung der Werke vor, sondern bearbeitete einige der Stücke nochmals. Das trifft auf BWV 772 auch zu – wenn auch in geringerem Masse als auf andere22. Im Gegensatz zum Praeambulum setzt Bach in Takt 6 der Oberstimme einen Triller aufs h, dann löst er in Takt 19 in der Neufassung das b auf den letzten Ton der Unterstimme nicht auf. In Takt 20 entfernt er in der Oberstimme den Triller auf dem e, der im Klavierbüchlein noch vorkam. Und schliesslich springt er im selben Takt in der Unterstimme vom A nicht aufs D herunter, um dann stufenweise aufzusteigen, sondern springt hoch aufs f und steigt dann stufenweise ab. Die acht Sechzehntel und der erste Achtel des 21. Taktes werden neu eine Oktave höher gespielt23.
Erst in späterer Zeit hat Bach versah seinen Autograph mit weiteren Ornamenten, wovon auch die C-Dur-Invention betroffen war: Insbesondere füllte er die Terzsprünge des Themas mit Zwischennoten aus, was anstatt der zwei Sechzehntel jeweils drei Sechzehnteltriolen ergab24.

Die Druckausgaben der bachschen Inventionen aus den letzten zwei Jahrhunderten unterscheiden sich – kaum, was den Notentext, aber was Ausschmückungen und Spielanweisungen angeht – teilweise erheblich. Mit dem Erscheinen der ersten Druckausgaben im 19. Jh.25 lässt sich eine zunehmende Einwirkung des zeitgenössischen Stilempfindens auf den Notentext feststellen. Eigenmächtige Angaben zu Dynamik, Tempo und Phrasierung prägen neben wenigen Textfehlern das Bild.
Bei Carl Czernys Ausgabe26 erstaunt zuallererst das hohe Tempo, das zur Aufführung des Stückes angegeben wird: M. M. 120. Weiter ist eine Fülle von Dynamik- und Phrasierungsanweisungen im Notentext enthalten. Textfehler beschränken sich auf zwei als Mordente bezeichnete Triller27, einen vergessenen Triller28 sowie die zweifelhafte Arpeggio-Anweisung für den Schlussakkord.
Hans Bischoff gibt in seiner Ausgabe das Tempo mit 96 an, wohingegen Hermann Keller in seiner Ausgabe mit M. M. 58 ein äusserst langsames Tempo wählt29 .
Ferruccio Busoni schreibt in seiner Ausgabe30, was das Tempo angeht, dem Interpreten – etwa wie Czerny – ebenfalls ein Allegro vor, versieht den Text mit vielen Angaben zu Dynamik und Phrasierung und schreibt zudem die Ornamente aus. Nach den Takten 6 und 14 weist er mit doppelten Taktstrichen auf den Abschluss des entsprechenden Teils hin. Textfehler beschränken sich auf den überflüssigen Triller in Takt 2031 und die Oktave im Schlussakkord in der Unterstimme.
Den ersten Versuch, den Notentext vom Ballast vergangener Jahre zu befreien, unternahm Ludwig Landshoff 1933. Er besorgte die erste so genannte Urtext-Ausgabe der "Inventionen und Sinfonien"32. Bis auf einen – zudem als fakultativ gekennzeichneten – Triller33 ist sie mit der Neuen Bach-Ausgabe34 identisch. Landshoff gibt das Tempo mit 84 an35.

Die Neue Bach-Ausgabe ist 1970 erschienen und gilt als massgebend. Auch sie basiert auf Bachs Reinschrift und druckt im Falle der nachträglich massiv veränderten C-Dur-Invention zwei Versionen ab: eine ohne, eine mit den später hinzugefügten Ausschmückungen. Den einzigen wesentlichen Unterschied zum Autograph bildet die Tatsache, dass die NBA im Falle der Inventionen nicht die ursprüngliche Schlüsselung angibt, die die Oberstimme im Diskantschlüssel und die untere wechselnd im Bass- oder Altschlüssel darstellt, sondern die moderne Schlüsselung verwendet36.
Der in der zweiten Hälfte des 20. Jh. langsam aufkommenden historischen Aufführungspraxis war es ein Anliegen, gerade die Barockmusik von überkommenen Interpretationstraditionen zu befreien. Umsichtig erstellte Urtextausgaben waren für einen solchen Weg die unerlässliche Basis. In diesem Bereich leistete und leistet die Musikwissenschaft den Interpreten wertvolle Dienste. Die Forschungen zur historischen Aufführungspraxis auf Grundlage von Urtextausgabe stellen ein idealtypisches Feld des Zusammenwirkens von Theorie und Praxis dar.

4. Analyse

Zum Schluss folgt nun die kurze Analyse des Werkes nach formalen, harmonischen und motivischen Kriterien37.
Die C-Dur-Invention BWV 772 beginnt mit dem "Attacco-Soggetto"38 S, das aus zwei Teilen a und b besteht, in der Oberstimme, das gleich eine Oktave tiefer in der linken Hand wiederholt wird, während in der rechten Hand das Motiv c mit dem schnellen Lauf des Hauptmotivs im Bass kontrastiert. Aus diesen beiden Motiven, S und c, entwickelt Bach nun mittels Imitation, Transposition, Sequenzierung, Stimmtausch, Spiegelung und Vergrösserung das ganze Werk. Er folgt dabei dem Prinzip der Fortspinnung, das nach einem kurzen Eröffnungsimpuls (hier S) einen motorischen Bewegungsablauf in Gang setzt, um nach einer Auffangphase in eine Kadenz zu münden39.
Das Stück umfasst 22 Takte und lässt sich aufgrund der Harmonik und formaler Kriterien grob in drei Teile unterteilen: Takte 1–6 führen von der Tonika C auf die Dominante G. Takte 7–14: Im Takt 7 beginnt das Thema im Bass in G-Dur und entwickelt sich in Richtung der Paralleltonart von C-Dur, a-Moll. Nach einer ersten klanglichen Verdichtung in den Takten 13/14 endet der Teil und geht über in den Schluss – in die Takte 15–22 – wo wieder nach C-Dur zurückgefunden wird und nach einer letzten Klangverdichtung in T. 21 der Schluss folgt40. Karl Geiringer unterteilt das Werk in seiner Analyse41 in fünf etwa gleich grosse Teile: T. 1–6, 7–10, 11–14, 15–18, 19–22, was strukturell durchaus Sinn macht, sind doch T. 7–10 von 11–14 sowie 15–18 von 19–22 aufgrund des Motiveinsatzes einfach zu unterscheiden.
Diese und detailliertere Aspekte können in der Analyse anhand des Notentextes im Anhang, Abb. 4/4a., wesentlich besser erklärt werden. Besonders faszinierend ist die horizontale und vertikale Spiegelung der Noten von Takt 3 und Takt 19, die J. N. David dargelegt hat42 (Abb. 5).

5. Schlusswort

Nach einem kurzen Einblick in die Welt Johann Sebastian Bachs kann – schon nur anhand eines kleinen Beispiels wie der C-Dur-Invention BWV 772 – die Meisterschaft dieses Komponisten und die wahre Komplexität seiner Werke gerade erst erahnt werden. In idealer Weise verbindet dieses Stück – in mit ihr die ganze Sammlung der "Inventionen und Sinfonien" – didaktischen Anspruch mit künstlerischer Vollkommenheit.


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