Vergleich verschiedener wohltemperierter Stimmungen

anhand von J. S. Bachs Fuga in As-Dur BWV 886 aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers und deren Frühversion, der Fughetta in F-Dur BWV 901

Eine musikwissenschaftliche Arbeit von Balint Dobozi
Proseminar bei Prof. Hans-Joachim Hinrichsen, Universität Zürich, Oktober 2000

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I. Einleitung und Fragestellung

Im Zuge meiner Beschäftigung mit dem Wohltemperierten Klavier Johann Sebastian Bachs1 entdeckte ich mein Interesse am Themenkreis der musikalischen Stimmung. Bachs Lebens- und Schaffensjahre fallen in eine Zeit, in der, was Stimmungsfragen angeht, ein Umbruch stattfand. Er wuchs sozusagen noch in der Mitteltönigkeit auf, lernte bei seinem Aufenthalt bei Buxtehude wohl Werckmeisters Temperatur, eine der damals erscheinenden so genannt „wol temperirten“ Stimmungen, kennen und verfasste schliesslich mit dem WK jenes Werk, das nachmalig als revolutionärer Repräsentant dieses Fortschritts zur Gleichstufigkeit in die Musikgeschichte eingehen sollte. Wie so vieles in der Geschichtsschreibung ist auch Letzteres eine grobe Vereinfachung. „Wol temperirt“ heisst nicht gleichstufig oder ungleichstufig. So ist es nicht erwiesen, welche Temperatur Bach verwendete, um seine „Claviere“ zu stimmen. Gibt es heute dazu Antworten? Dieses Erkenntnisinteresse führte zu der hier vorliegenden Arbeit.
So tritt neben mein Interesse an der Entwicklungsgeschichte der musikalischen Stimmung die zentrale Frage, was denn Bach unter „wol temperirt“ verstanden hat, wie er seine Cembali und Clavichorde stimmte. Dabei will ich mich nicht nur auf Quellenarbeit und theoretische Aspekte beschränken, sondern Letztere durch die Hörbeispiele auf der beiliegenden CD zusätzlich greifbar, nachvollziehbar zu machen.
Die Fragestellung lautet:


Ich griff bei der Literatur im Wesentlichen auf die wegweisenden Forschungen Herbert Kelletats, die reichhaltigen „Stimmanweisungen ...“ Bernhard Billeters und die kritische Stimme Manfred Tessmers zurück. Wichtige physikalische Zusammenhänge fanden sich in Reinhart Froschs Studien über die Stimmungen. Als gute Basis diente die bewährte Werkeinführung zum WK von Alfred Dürr. Textgrundlage für die Aufnahmen war die Neue Bach-Ausgabe.

II. Entwicklungsgeschichte der musikalischen Stimmung

Die Entwicklungsgeschichte der musikalischen Stimmung in Mitteleuropa ist in die abendländische Musikgeschichte als deren wichtiger Teil eingebettet. In einem kurzen Überblick sollen zunächst die wichtigsten Probleme und die Entwicklung der musikalischen Stimmung von der Antike bis zur Barockzeit dargestellt werden.
Grundlage des abendländischen Tonsystems2 ist der Tonvorrat, der sich aus Grundton und Obertönen – Vielfachen des Ersteren – eines unterschiedlich angeblasenen Rohres oder durch Teilung einer gespannten Saite3 in simple Verhältnisse4 ergibt. Zu einem Grundton mit der Frequenz f =n gesellen sich so folgende Obertöne: Oktave (f =2n), Quinte (f =3n), grosse Terz (f =5n) etc. Bei einer Saite mit der Länge s bestehen folgende Teilungsverhältnisse: Oktave (1/2)s, Quinte (2/3)s, Quarte (3/4)s, grosse Terz (4/5)s, kleine Terz (5/6)s etc. Nach Wiederholung dieser Vorgehensweise mit der Oberquinte und der Unterquinte als Grundton sowie der Anordnung aller bestimmten Töne in derselben Oktave erhält man die sieben Töne umfassende diatonische Tonleiter.
Bei der Stapelung reiner Quinten vom Grundton aus auf- oder abwärts wiederum wird ein neuer Tonraum erschlossen: Es entsteht die chromatische Tonleiter, die innerhalb einer Oktave zwölf Töne beinhaltet5. Dabei wird ein Problem generiert, das der griechische Philosoph Pythagoras erkannt hat: Nach der Auftürmung von zwölf Quinten über dem Grundton müsste dessen siebte Oktave erreicht werden6. Da zwölf reine Quinten aber etwas höher liegen als sieben (reine) Oktaven7, schliesst sich der Kreis nicht. Die Differenz zwischen den beiden Tönen wird nach ihrem Entdecker das pythagoräische Komma genannt und beträgt etwa 24 Cent, also fast einen Achtelton.
Ein weiteres Problem ergibt sich, wenn man von einem Grundton aus 4 reine Quinten übereinanderstapelt: Man müsste (nach Abzug von 2 Oktaven) auf der grossen Terz des Grundtons landen – die reine grosse Terz liegt aber etwa 22 Cents unter diesem Ton. Diese Differenz ist das syntonische Komma8, die aus den Quinten gebildete Terz heisst pythagoräische Terz.
Diese Probleme waren von der Gregorianik bis ins Spätmittelalter musikalisch allerdings noch gar nicht relevant, noch gar keine „Probleme“: Die aus reinen Quinten konstruierte Penta- und Heptatonik9 war fest im pythagoräischen System verankert. Die sich dabei ergebende pythagoräische Terz war unbedeutend, weil die grosse Terz als Intervall bei ein- oder zweistimmiger (Quinten, Quarten) Musik keine Rolle spielte.
Erst mit dem Aufkommen der Mehrstimmigkeit10 und der Einbindung der Chromatik ins diatonische System wurde die grosse Terz eine wichtige Konsonanz. Und offenbar wurde sie so wichtig, dass man, um eine Stimmung mit reinen grossen Terzen zu erreichen, gar die reinen Quinten opferte und alle um je ein Viertel syntonisches Komma verengte, so dass acht reine grosse Terzen entstanden11. Wieder ergaben sich zwei Probleme: Drei reine grosse Terzen sind um die kleine Diesis grösser als eine Oktave12. Das Ergänzungsintervall (verminderte Quart) zweier grosser Terzen zur Oktave ist zu klein. Die zwölfte Quinte (meist G#–Eb) ihrerseits ist viel zu gross und heisst Wolfsquinte. Mitteltönig heisst diese Stimmung, weil der benutzte Ganzton exakt zwischen dem natürlichen „grossen“ (8/9)n und „kleinen“ Ganzton (9/10)n liegt. Sie wurde erstmals 1523 beschrieben13 und war bis Ende des 17. Jahrhunderts das vorherrschende Tonsystem. Im Zuge der Entwicklungen in Harmonik, Polyphonie, Instrumentenbau stellte sie den ersten wichtigen Schritt in Richtung einer musikalischen Temperatur dar, d. h. den Beginn der Entwicklung zur heutigen gleichstufigen Stimmung.


III. Bach und die wohltemperierten Stimmungen

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts setzte eine neue Entwicklung ein. Die Komponisten waren bestrebt, ihre Harmonik zu erweitern – die Dur-Moll-Tongeschlechter waren ausgebildet, es ging vermehrt um die Modulationsmöglichkeiten innerhalb eines Stücks. Im mitteltönigen System war aber dafür kein Platz, die Wolfsquinte verhinderte die Benutzung viele Tonarten. So wurde eine Vielzahl von neuen Temperaturen entwickelt. Diese hiessen im Gegensatz zu den mitteltönigen Temperaturen „wol temperirte“14 Stimmungen15, da sie sich darum bemühten, den Quintenzirkel16 zu schliessen und so die neuen musikalischen Entwicklungen zu unterstützen. Diejenige mit dem grössten Einfluss war wohl die 3. Temperatur Andreas Werckmeisters (1645–1706). Er versuchte, die mitteltönige Tradition mit dem pythagoräischen Tonsystem zu vereinbaren17. Er verengte die Quinten c–g–d–a und h–fis um 1/4 eines Kommas18, die übrigen blieben rein19. Das Ergebnis ist ziemlich befriedigend: Die Terzen sind alle „scharf“, d. h. im Vergleich zum reinen Intervall zu hoch, aber nie mehr als ein pythagoräisches Komma. Tonarten sind erkennbar, aber deren Charaktere sind nicht dominant.
Werckmeister arbeitete für den berühmten Dietrich Buxtehude, der ihn zu seiner Arbeit beglückwünschte20. Und 1705 lernte Bach Werckmeisters Stimmungen aller Wahrscheinlichkeit nach auf seinem Besuch bei Buxtehude kennen.
1706 legte Johann Georg Neidhardt (ca. 1685–1739) als „Beste und leichteste Temperatur“ eine gleichstufige Stimmung vor.

Bach
Von Bach selbst sind weder Stimmanweisungen noch eindeutige Hinweise auf eine bestimmte Temperierung seiner Instrumente vorhanden. Friedrich Wilhelm Marpurg erwähnt, wie Bach „alle grossen Terzen scharf“ temperiert haben wollte. Das ist aber kein Beweis für Gleichstufigkeit, da es z. B. Werckmeisters Temperatur nicht ausschliesst: Bei ihm sind alle grossen Terzen scharf.
In Bachs Nekrolog heisst es:

„Die Clavicymbale wusste er, in der Stimmung, so rein und richtig zu temperiren, dass alle Tonarten schön und gefällig klangen. Erwusste, von keinen Tonarten, die man, wegen unreiner Stimmung, hätte vermeiden müssen.“21

Johann Nikolaus Forkel schreibt in seiner Bach-Biografie 1802: „... seine Chromatik war so sanft und fliessend, als wenn er bloss im diatonischen Klanggeschlecht geblieben wäre.“22 Sehr interessant ist auch folgender Hinweis:
„Selbst der in der Mathematik so gelehrte Johann Sebastian Bach habe sich in diesen Fragen nach der Natur, nicht nach der Regel gerichtet, und die ganze Mathematisiererei habe noch nicht einmal den Erfolg gehabt, die Durchführung einer einwandfreien Temperatur zu gewährleisten.“23

Die Interpretation einer solchen Information ist sehr schwierig. Hat Bach nach Gehör und „intuitiv“ gestimmt? Wieso war er mit (welchen?) mathematischen Methoden unzufrieden?
Kirnberger
Johann Philipp Kirnberger (1721–1783) war Schüler Bachs und veröffentlichte nach dem Tod seines Meisters verschiedene musiktheoretische Texte, darunter auch Stimmanweisungen. In diesen verfeinert er die chromatischen Intervalle von Werckmeister III und eröffnet so der Enharmonik neue Wege. Er bleibt jedoch dem Prinzip der Verschmelzung mitteltöniger und pythagoräischer Merkmale treu. Kirnberger erscheint als Vermittler zwischen Tradition und Moderne, der die Anforderungen zeitgenössischer Werke ebenso wie pythagoräische und mitteltönige Klangästhetik in seine Stimmung einfliessen liess und somit Werckmeisters Bemühungen vervollkommnete24.
In diesem Zusammenhang soll ein Blick auf die damals richtungsweisenden Forschungen Herbert Kelletats geworfen werden. Er veröffentlichte 1960 nach längerer Forschung sein Traktat „Zur musikalischen Temperatur insbesondere bei Johann Sebastian Bach“, dessen Thema er in den darauffolgenden Jahren noch mehrmals aufgreifen sollte. Ihm ging es darum, aufzuzeigen, dass im 18. Jahrhundert und besonders bei Bach noch ungleichstufig gestimmt worden war. Diese These führt er unter Zuhilfenahme einer grossen Zahl von Quellen und gezielter musikhistorischer Überlegungen auf eine in sich äusserst stimmigen Art und Weise aus. Kelletat schliesst mit der Vermutung, dass Kirnberger als Bachs Schüler dessen Stimmpraxis wohl am besten gekannt und übernommen haben dürfte, womit Kirnbergers Stimmanweisung bezüglich bachscher Claviermusik vor allen anderen zu bevorzugen sei.
Diese Hoffnung, dass Kirnberger als Bachs Schüler wissen musste, wie sein Lehrer zu stimmen pflegte, wird von Helmut K. H. Lange relativiert:

„Im Jahre 1766 veröffentlicht Kirnberger seine erste Temperatur; 1771, nach vielen Angriffen, folgt die zweite, 1779 endlich die dritte Fassung. Wäre die zweite oder die dritte Fassung das Fazit dessen, was Kirnberger bei Bach gelernt hatte – warum dann zuerst die Bekanntgabe einer solch schlechten Temperatur, wie es die erste Fassung ist? Hier liegt doch ein Fehlschluss vor.“25

Die Kritik, die Kirnberger nach Veröffentlichung seiner ersten und zweiten Stimmung 1766 bzw. 1771 einstecken musste, insbesondere von Friedrich Wilhelm Marpurg und Johann Andreas Sorge, zwei Verfechtern der Gleichstufigkeit26, relativiert Kelletat als Polemik von der gleichstufigen Temperatur, der „gegnerischen Seite“ zugetanen Theoretikern. Marpurg kritisiert an Kirnberger II besonders, dass As- und Es-Dur mit pythagoräischer Skala zum „Sammelplatz aller unreinen Töne“ würden27.

Demgegenüber geht Bernhard Billeter in seiner „Anweisung zum Stimmen von Tasteninstrumenten in verschiedenen Temperaturen“ auf keine einzige der kirnbergerschen Temperaturen gesondert ein. Er weist für die historische Aufführungspraxis auf Werckmeister III hin, geht, was die Orgeltemperaturen angeht, im Besonderen auf Gottfried Silbermanns Stimmungen ein und schlägt in seinem Abschnitt über Bachs WK eine selbst entwickelte, von der ersten silbermannschen Stimmung abgeleitete Temperatur vor.
Die Thesen Kelletats kritisiert Manfred Tessmer in seinem 1997 gedruckten Vortrag von 1993 in zentralen Punkten. Er wirft Kelletat eine ideologisch gefärbte Interpretation der Quellen und das Fehlen von Evidenz vor. Er bringe keine stichhaltigen Beweise für eine ungleichstufige Bach-Temperatur28, sondern spreche von positiven subjektiven Hörerlebnissen von Bachs Musik in Kirnbergers Stimmung29; das ist für ihn keine Grundlage für ein wissenschaftliches Forschungsergebnis.
Dazu bringt er weitere, nicht mit Kelletats Argumentationslinie zu vereinbarende Quellen. Einerseits weist er darauf hin, dass schon Werckmeister in einem 1697 erschienenen „Memorial“30 die gleichstufige Temperatur („da ... alle quinten 1/12 eines commatis herunter schweben“) nicht nur beschreibt, sondern auch meint, diese gäbe „dann eine gute und richtige temperatur“. Und auch in seinem 1707 postum erschienenen Buch „Musicalische Paradoxal-Discourse“31 bekennt er, dass er „schon vor 30. Jahren ... auf diese Temperatur gedacht“ habe. Und er ist überzeugt, dass, „... wenn die Temperatur also eingerichtet wird / ... / so dann gewiss eine wohl temperirte Harmonia, durch den gantzen Circul und durch alle Claves sich finden wird.“
Insgesamt geschieht Tessmers Kritik zu Recht. Dabei soll aber Kelletats Verdienst nicht geschmälert werden, mit seiner eigentlichen Antithese zur damals gängigen Meinung, Bach habe gleichstufig gestimmt, den Anstoss zu einem fruchtbaren Wissenschaftsstreit gemacht zu haben.

„Wol temperirt“

Es stellt sich die Frage nach der historischen Begrifflichkeit: Was heisst in diesem Zusammenhang „wol temperirt“? Hier setzen die verschiedenen Meinungen, insbesondere Kelletat, an und versuchen zu beweisen, dass zu jener Zeit unter wohltemperiert ungleichstufig temperierte Stimmungen verstanden wurden. Wir erinnern uns aber, dass Werckmeister schon 1697 von der gleichstufigen Stimmung als einer „gute[n] und richtige[n] temperatur“ spricht, wobei hier „gut“ und „richtig“ durchaus in die Nähe von „wol“ zu setzen sind, diese Stimmung für ihn also sicherlich dazugehört32. Insofern ist Tessmer beizupflichten, als er die Forschung kritisiert, heutzutage die gleichstufige Stimmung von der Gruppe der historischen wohltemperierten Stimmungen fast kategorisch auszunehmen33. In der Tat geschieht dies genauso kategorisch, wie zuvor das Gegenteil angenommen wurde.
Als „wohltemperiert“ bezeichnet werden können deshalb alle um Ausgleich im ganzen Quintenzirkel bemühten, ungleichstufigen sowie gleichstufigen temperierten Stimmungen.

Alt und Neu

Die folgenden beiden Zitate können die Schwierigkeiten veranschaulichen, die der Entwicklung neuer musikalischer Temperaturen den Weg versperrten: Wenn Werckmeister im „Musicalischen Paradoxal-Discourse“ beschreibt, wie er bezüglich seines Vorschlages der gleichstufigen Stimmung von „etliche[n] Ignoranten verfolget“ wurde und „leiden“ musste34 und Johann Kuhnau noch 1718 schreibt, dass ihm die gleichstufige Stimmung Neidhardts „im Übrigen ... sehr wohl“ gefalle, dass er aber noch „kein Werck von einem habilen Instrument- oder Orgelmacher darnach eingerichtet angetroffen“ habe35, deutet das auf die Spannung zwischen Althergebrachtem und Neuem hin, von der die Entwicklung geprägt war.
Irgendetwas scheint die Musiker an der gleichstufigen Stimmung gestört zu haben. Hier sei die Überlegung angebracht, dass „Temperatur“ als – langsame – Entwicklung des pythagoräischen, und dann mit der Wendung zum „Wohltemperierten“ als Entwicklung des mitteltönigen Systems im historischen Kontext nicht nur als willkommener Fortschritt, sondern genauso als eine Aufgabe alter Traditionen erscheinen konnte. Der Streit um die „richtige, gute“ Temperatur rief deshalb zwangsläufig Polemiken hervor, die zwischen sanften (z. B. Kirnberger) und radikalen Erneuerern (Anhängern der gleichstufigen Stimmung wie Marpurg oder Sorge) ausgetragen wurden.
Auch ist denkbar, dass beispielsweise Organisten, deren Instrumente nicht einfach umzustimmen waren, auf das gesamte mitteltönige Repertoire zurückgreifen können mussten und so in der Orgelstimmung ein retardierendes Moment herrschte, was die gleichstufige Temperatur angeht. Cembali und Clavichorde hingegen waren leichter umzustimmen und eigneten sich deshalb für Temperatur-Experimente.

Stimmpraxis
Hier muss ein Blick auf die Stimmpraxis geworfen werden. Jorgensen betont in seinem Buch „Tuning ...“, in welchem er in einer chronologischen Liste von Dutzenden Stimmungen eine eigentliche Geschichte der Stimmanweisungen bietet, immer wieder, welchen Schwierigkeiten die Zeitgenossen Bachs beim Versuch, exakt gleichstufig zu stimmen, unterworfen waren36. Mit dem Fehlen von Stimmgeräten und Frequenzmessern bis tief ins 20. Jahrhundert hinein benutzten Stimmer neben dem Gehör etwa Metronome, um die Frequenz der Schwebungen zu bestimmen37 bzw. Monochorde. Auch Werckmeister preist die Vorzüge der gleichstufigen Stimmung mit Vorbehalt: Die Menschen würden „jubiliren“ „wenn ... ein accurates Ohr dieselbe auch zum Stande zubringen / und zustimmen weiss ...“38
Rein schon die Anzahl und Länge der Stimmanweisungen im 18. und 19. Jahrhundert zeigt, wie sehr Theorie und Praxis der gleichstufigen Stimmung auseinander klafften39. Dagegen beschreibt Jorgensen Kirnbergers Temperatur II als „the easiest temperament to tune that was ever published“40. Forkel schreibt über Bach, dass er seinen Flügel und sein Clavichord immer selber stimmte: „... und er war so geübt in dieser Arbeit, dass sie ihm nie mehr als eine Viertelstunde kostete. ...“41 Es stellt sich die Frage, ob es möglich ist, ein Clavichord oder Cembalo in einer Viertelstunde gleichstufig zu stimmen – ein Indiz, das für Kirnberger spricht? Oder hatte Bach eine eigene Methode?


IV. Hörbeispiele


Im Zusammenhang mit dieser Arbeit habe ich eine Reihe von Hörbeispielen erstellt 42. Sie umfassen die As-Dur-Fuge BWV 886 aus dem Wohltemperierten Klavier II und deren Frühversion, die Fughetta in F-Dur BWV 901 aus den Fünf Präludien und Fughetten. Die Auswahl kam folgendermassen zustande: Ich suchte ein Stück aus dem WK, das eine Frühversion in einer anderen Tonart besass. Dafür kamen einige Präludien und Fugen aus dem zweiten Band in Frage. Die gewählte Fuge überzeugte, da sie mit der Fughetta eine gesicherte Herkunft hat und da sie mit As-Dur eine bezüglich der zu untersuchenden Stimmungen interessante Tonart aufwies.
Auf die Theorien der Tonartenästhetik soll in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden, da deren Rezeption bzw. Anwendung durch Bach nicht gesichert ist43. Ausserdem macht etwa Mattheson keine Angaben für das hier vorliegende As-Dur. Jacques Handschin äussert die berechtigte Vermutung, dass Bach diesbezüglich nicht „in hohem Grade feinfühlig“ gewesen sei, da er – wie im hier behandelten Fall – viele Klavierstücke im Hinblick auf Einverleibung ins WK II transponierte.
Gerade aus Mangel an handfesten Beweisen, dass Bach auf seinen Clavieren die eine oder andere Stimmung benutzte, bieten die Aufnahmen dem Leser nun die Möglichkeit, anhand der ausgewählten Stücke mit ihren unterschiedlich „heiklen“ Tonarten als Hörer einen eigenen Eindruck, eine eigene Präferenz zu entwickeln.
Die Beispiele erklingen in fünf verschieden gestimmten Versionen: in Werckmeister III, Kirnberger II, Kirnberger III, der „Bach-Stimmung“ Kelletats und der gleichstufiger Stimmung44. Die jeweilige Reihenfolge ist: Fughetta in F-Dur, dann zwei Kadenzen – eine in F-Dur und eine in As-Dur als Kontrolle für die Unterschiede des Tonartcharakters, der Akkordintervalle – und zum Schluss die Fuga in As-Dur. Hinter den Links in der folgenden Liste stecken MP3-Files vorerst nur mit den Kadenzen in F und As in den einzelnen Stimmungen

Im Folgenden seien meine subjektiven Höreindrücke beschrieben:


V. Wie waren Bachs Tasteninstrumente gestimmt?

Was diese Arbeit nicht will und nicht kann, ist, weder eine abschliessende noch weit reichende Bestimmung einer original bachschen Temperatur für Tasteninstrumente vorzunehmen. Einerseits hat die Verfolgung dieser spezifischen Fragestellung in der bisherigen Forschung zu wissenschaftlich nicht restlos überzeugenden, da letztendlich spekulativen Ergebnissen geführt46. Andererseits ist es möglich, dass Bach selbst während seiner Schaffensjahre eine Entwicklung durchmachte, was das Stimmen seiner Instrumente anging, sei es aus der Umsetzung eigener oder fremder Neuerkenntnisse.
Jedenfalls ist eine solche Stimmung auch nach Ausbreitung aller heute vorhandenen Quellen weiterhin nicht präzise rekonstruierbar. Nichtsdestotrotz fallen einige der Stimmungen ihrer geschichtlichen Nähe zu Bach wegen in die Auswahl: die ungleichstufigen Stimmungen von Werckmeister und Kirnberger; die gleichstufige Temperatur, wie sie etwa Neidhardt oder auch Werckmeister beschrieben. Diese Auswahl ist es denn auch, die in den Hörbeispielen verglichen werden kann. Der Leser wird hier zum Hörer und kann und soll sich seine Meinung selbst machen, was die „subjektiven Höreindrücke“ angeht.
Wissenschaftlich kann die Frage nach der originalen Bach-Stimmung aufgrund der heutigen Quellenlage jedoch nicht beantwortet werden. Andererseits besteht die Frage nach dem Einfluss einer etwaigen Klangästhetik, die die Präferenz für eine gewisse Harmonik, Melodik, den Tonsatz, für Konsonanz und Dissonanz festlegt. Denn die Vermutung kann geäussert werden, dass, wenn die Befürworter der gleichstufigen Stimmung so vehement gegen neu veröffentlichte ungleichstufige Stimmungen polemisierten, gegen Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts eine klangästhetische Entwicklung eingesetzt hat, die erst mit der vollständigen Akzeptanz der gleichstufigen Stimmung irgendwann im 19. Jahrhundert beendet wurde. Anstatt einer unbeholfenen Antwort auf die anfangs gestellte Frage nach der Bach-Stimmung sollen hier darum als Fazit einige Anschlussfragen gestellt werden, die neuen Forschungen weiterhelfen könnten:

Bibliografie und Fussnoten sind hier nicht enthalten, jedoch sende ich allen Interessierten ein PDF der vollständigen Arbeit inkl. Bibliografie, Fussnoten und Links zu allen MP3-Hörbeispielen gegen eine Bearbeitungsgebühr gerne zu.

Die Aufnahmen können Sie auch als CD unter obiger E-mail-Adresse bestellen.