Eine musikwissenschaftliche
Arbeit von Balint Dobozi
Proseminar bei Prof. Hans-Joachim Hinrichsen, Universität Zürich, Oktober 2000
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© 2000 by Bálint Dobozi, Zürich. Alle Rechte vorbehalten. Bei Verwendung von Teilen dieser Arbeit in wissenschaftlichen Texten bitte die übliche Zitierung, z. B. "Dobozi, Bálint. Vergleich verschiedener wohltemperierter Stimmungen. Proseminararbeit, Universität Zürich. Zürich 2000". Es kann auch die URL angegeben werden. Danke.
I. Einleitung und Fragestellung
Im Zuge meiner Beschäftigung mit dem Wohltemperierten Klavier Johann Sebastian Bachs1 entdeckte ich mein Interesse am Themenkreis der musikalischen Stimmung. Bachs Lebens- und Schaffensjahre fallen in eine Zeit, in der, was Stimmungsfragen angeht, ein Umbruch stattfand. Er wuchs sozusagen noch in der Mitteltönigkeit auf, lernte bei seinem Aufenthalt bei Buxtehude wohl Werckmeisters Temperatur, eine der damals erscheinenden so genannt wol temperirten Stimmungen, kennen und verfasste schliesslich mit dem WK jenes Werk, das nachmalig als revolutionärer Repräsentant dieses Fortschritts zur Gleichstufigkeit in die Musikgeschichte eingehen sollte. Wie so vieles in der Geschichtsschreibung ist auch Letzteres eine grobe Vereinfachung. Wol temperirt heisst nicht gleichstufig oder ungleichstufig. So ist es nicht erwiesen, welche Temperatur Bach verwendete, um seine Claviere zu stimmen. Gibt es heute dazu Antworten? Dieses Erkenntnisinteresse führte zu der hier vorliegenden Arbeit.
So tritt neben mein Interesse an der Entwicklungsgeschichte der musikalischen Stimmung die zentrale Frage, was denn Bach unter wol temperirt verstanden hat, wie er seine Cembali und Clavichorde stimmte. Dabei will ich mich nicht nur auf Quellenarbeit und theoretische Aspekte beschränken, sondern Letztere durch die Hörbeispiele auf der beiliegenden CD zusätzlich greifbar, nachvollziehbar zu machen.
Die Fragestellung lautet:
Ich griff bei der Literatur im Wesentlichen auf die wegweisenden Forschungen
Herbert Kelletats, die reichhaltigen Stimmanweisungen ... Bernhard
Billeters und die kritische Stimme Manfred Tessmers zurück. Wichtige physikalische
Zusammenhänge fanden sich in Reinhart Froschs Studien über die Stimmungen.
Als gute Basis diente die bewährte Werkeinführung zum WK von Alfred
Dürr. Textgrundlage für die Aufnahmen war die Neue Bach-Ausgabe.
II. Entwicklungsgeschichte der musikalischen Stimmung
Die Entwicklungsgeschichte der musikalischen Stimmung in Mitteleuropa ist in
die abendländische Musikgeschichte als deren wichtiger Teil eingebettet.
In einem kurzen Überblick sollen zunächst die wichtigsten Probleme
und die Entwicklung der musikalischen Stimmung von der Antike bis zur Barockzeit
dargestellt werden.
Grundlage des abendländischen Tonsystems2 ist der Tonvorrat, der sich aus Grundton und Obertönen Vielfachen
des Ersteren eines unterschiedlich angeblasenen Rohres oder durch Teilung
einer gespannten Saite3 in simple Verhältnisse4
ergibt. Zu einem Grundton mit der Frequenz f =n gesellen sich so folgende
Obertöne: Oktave (f =2n), Quinte (f =3n), grosse Terz (f
=5n) etc. Bei einer Saite mit der Länge s bestehen folgende Teilungsverhältnisse:
Oktave (1/2)s, Quinte (2/3)s, Quarte (3/4)s, grosse Terz (4/5)s, kleine Terz
(5/6)s etc. Nach Wiederholung dieser Vorgehensweise mit der Oberquinte und der
Unterquinte als Grundton sowie der Anordnung aller bestimmten Töne in derselben
Oktave erhält man die sieben Töne umfassende diatonische Tonleiter.
Bei der Stapelung reiner Quinten vom Grundton aus auf- oder abwärts wiederum
wird ein neuer Tonraum erschlossen: Es entsteht die chromatische Tonleiter,
die innerhalb einer Oktave zwölf Töne beinhaltet5.
Dabei wird ein Problem generiert, das der griechische Philosoph Pythagoras erkannt
hat: Nach der Auftürmung von zwölf Quinten über dem Grundton
müsste dessen siebte Oktave erreicht werden6.
Da zwölf reine Quinten aber etwas höher liegen als sieben (reine)
Oktaven7, schliesst sich der Kreis nicht.
Die Differenz zwischen den beiden Tönen wird nach ihrem Entdecker das pythagoräische
Komma genannt und beträgt etwa 24 Cent, also fast einen Achtelton.
Ein weiteres Problem ergibt sich, wenn man von einem Grundton aus 4 reine Quinten übereinanderstapelt: Man müsste (nach Abzug von 2 Oktaven) auf der
grossen Terz des Grundtons landen die reine grosse Terz liegt aber
etwa 22 Cents unter diesem Ton. Diese Differenz ist das syntonische Komma8,
die aus den Quinten gebildete Terz heisst pythagoräische Terz.
Diese Probleme waren von der Gregorianik bis ins Spätmittelalter musikalisch
allerdings noch gar nicht relevant, noch gar keine Probleme: Die
aus reinen Quinten konstruierte Penta- und Heptatonik9 war fest im pythagoräischen System verankert. Die sich dabei ergebende
pythagoräische Terz war unbedeutend, weil die grosse Terz als Intervall
bei ein- oder zweistimmiger (Quinten, Quarten) Musik keine Rolle spielte.
Erst mit dem Aufkommen der Mehrstimmigkeit10
und der Einbindung der Chromatik ins diatonische System wurde die grosse Terz
eine wichtige Konsonanz. Und offenbar wurde sie so wichtig, dass man, um eine
Stimmung mit reinen grossen Terzen zu erreichen, gar die reinen Quinten opferte
und alle um je ein Viertel syntonisches Komma verengte, so dass acht reine grosse
Terzen entstanden11. Wieder ergaben sich
zwei Probleme: Drei reine grosse Terzen sind um die kleine Diesis grösser
als eine Oktave12. Das Ergänzungsintervall
(verminderte Quart) zweier grosser Terzen zur Oktave ist zu klein. Die zwölfte
Quinte (meist G#Eb) ihrerseits ist viel zu gross und heisst Wolfsquinte.
Mitteltönig heisst diese Stimmung, weil der benutzte Ganzton exakt
zwischen dem natürlichen grossen (8/9)n und kleinen Ganzton (9/10)n liegt. Sie wurde erstmals 1523 beschrieben13
und war bis Ende des 17. Jahrhunderts das vorherrschende Tonsystem. Im Zuge
der Entwicklungen in Harmonik, Polyphonie, Instrumentenbau stellte sie den ersten
wichtigen Schritt in Richtung einer musikalischen Temperatur dar, d. h. den
Beginn der Entwicklung zur heutigen gleichstufigen Stimmung.
III. Bach und die wohltemperierten Stimmungen
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts setzte eine neue Entwicklung ein. Die Komponisten
waren bestrebt, ihre Harmonik zu erweitern die Dur-Moll-Tongeschlechter
waren ausgebildet, es ging vermehrt um die Modulationsmöglichkeiten innerhalb
eines Stücks. Im mitteltönigen System war aber dafür kein Platz,
die Wolfsquinte verhinderte die Benutzung viele Tonarten. So wurde eine Vielzahl
von neuen Temperaturen entwickelt. Diese hiessen im Gegensatz zu den mitteltönigen
Temperaturen wol temperirte14
Stimmungen15, da sie sich darum bemühten,
den Quintenzirkel16 zu schliessen und so
die neuen musikalischen Entwicklungen zu unterstützen. Diejenige mit dem
grössten Einfluss war wohl die 3. Temperatur Andreas Werckmeisters (16451706).
Er versuchte, die mitteltönige Tradition mit dem pythagoräischen Tonsystem
zu vereinbaren17. Er verengte die Quinten
cgda und hfis um 1/4 eines Kommas18,
die übrigen blieben rein19. Das Ergebnis
ist ziemlich befriedigend: Die Terzen sind alle scharf, d. h. im
Vergleich zum reinen Intervall zu hoch, aber nie mehr als ein pythagoräisches
Komma. Tonarten sind erkennbar, aber deren Charaktere sind nicht dominant.
Werckmeister arbeitete für den berühmten Dietrich Buxtehude, der ihn
zu seiner Arbeit beglückwünschte20.
Und 1705 lernte Bach Werckmeisters Stimmungen aller Wahrscheinlichkeit nach
auf seinem Besuch bei Buxtehude kennen.
1706 legte Johann Georg Neidhardt (ca. 16851739) als Beste und leichteste
Temperatur eine gleichstufige Stimmung vor.
Bach
Von Bach selbst sind weder Stimmanweisungen noch eindeutige Hinweise auf eine
bestimmte Temperierung seiner Instrumente vorhanden. Friedrich Wilhelm Marpurg
erwähnt, wie Bach alle grossen Terzen scharf temperiert haben
wollte. Das ist aber kein Beweis für Gleichstufigkeit, da es z. B. Werckmeisters
Temperatur nicht ausschliesst: Bei ihm sind alle grossen Terzen scharf.
In Bachs Nekrolog heisst es:
Die Clavicymbale wusste er, in der Stimmung, so rein und richtig
zu temperiren, dass alle Tonarten schön und gefällig klangen. Erwusste,
von keinen Tonarten, die man, wegen unreiner Stimmung, hätte vermeiden
müssen.21
Johann Nikolaus Forkel schreibt in seiner Bach-Biografie 1802: ... seine
Chromatik war so sanft und fliessend, als wenn er bloss im diatonischen Klanggeschlecht
geblieben wäre.22 Sehr interessant
ist auch folgender Hinweis:
Selbst der in der Mathematik so gelehrte Johann Sebastian Bach habe sich
in diesen Fragen nach der Natur, nicht nach der Regel gerichtet, und die ganze
Mathematisiererei habe noch nicht einmal den Erfolg gehabt, die Durchführung
einer einwandfreien Temperatur zu gewährleisten.23
Die Interpretation einer solchen Information ist sehr schwierig. Hat Bach nach
Gehör und intuitiv gestimmt? Wieso war er mit (welchen?) mathematischen
Methoden unzufrieden?
Kirnberger
Johann Philipp Kirnberger (17211783) war Schüler Bachs und veröffentlichte
nach dem Tod seines Meisters verschiedene musiktheoretische Texte, darunter
auch Stimmanweisungen. In diesen verfeinert er die chromatischen Intervalle
von Werckmeister III und eröffnet so der Enharmonik neue Wege. Er bleibt
jedoch dem Prinzip der Verschmelzung mitteltöniger und pythagoräischer
Merkmale treu. Kirnberger erscheint als Vermittler zwischen Tradition und Moderne,
der die Anforderungen zeitgenössischer Werke ebenso wie pythagoräische
und mitteltönige Klangästhetik in seine Stimmung einfliessen liess
und somit Werckmeisters Bemühungen vervollkommnete24.
In diesem Zusammenhang soll ein Blick auf die damals richtungsweisenden Forschungen
Herbert Kelletats geworfen werden. Er veröffentlichte 1960 nach längerer
Forschung sein Traktat Zur musikalischen Temperatur insbesondere bei Johann
Sebastian Bach, dessen Thema er in den darauffolgenden Jahren noch mehrmals
aufgreifen sollte. Ihm ging es darum, aufzuzeigen, dass im 18. Jahrhundert und
besonders bei Bach noch ungleichstufig gestimmt worden war. Diese These führt
er unter Zuhilfenahme einer grossen Zahl von Quellen und gezielter musikhistorischer
Überlegungen auf eine in sich äusserst stimmigen Art und Weise aus.
Kelletat schliesst mit der Vermutung, dass Kirnberger als Bachs Schüler
dessen Stimmpraxis wohl am besten gekannt und übernommen haben dürfte,
womit Kirnbergers Stimmanweisung bezüglich bachscher Claviermusik vor allen
anderen zu bevorzugen sei.
Diese Hoffnung, dass Kirnberger als Bachs Schüler wissen musste, wie sein
Lehrer zu stimmen pflegte, wird von Helmut K. H. Lange relativiert:
Im Jahre 1766 veröffentlicht Kirnberger seine erste Temperatur;
1771, nach vielen Angriffen, folgt die zweite, 1779 endlich die dritte Fassung.
Wäre die zweite oder die dritte Fassung das Fazit dessen, was Kirnberger
bei Bach gelernt hatte warum dann zuerst die Bekanntgabe einer solch
schlechten Temperatur, wie es die erste Fassung ist? Hier liegt doch ein Fehlschluss
vor.25
Die Kritik, die Kirnberger nach Veröffentlichung seiner ersten und zweiten
Stimmung 1766 bzw. 1771 einstecken musste, insbesondere von Friedrich Wilhelm
Marpurg und Johann Andreas Sorge, zwei Verfechtern der Gleichstufigkeit26,
relativiert Kelletat als Polemik von der gleichstufigen Temperatur, der gegnerischen
Seite zugetanen Theoretikern. Marpurg kritisiert an Kirnberger II besonders,
dass As- und Es-Dur mit pythagoräischer Skala zum Sammelplatz aller
unreinen Töne würden27.
Demgegenüber geht Bernhard Billeter in seiner Anweisung zum Stimmen
von Tasteninstrumenten in verschiedenen Temperaturen auf keine einzige
der kirnbergerschen Temperaturen gesondert ein. Er weist für die historische
Aufführungspraxis auf Werckmeister III hin, geht, was die Orgeltemperaturen
angeht, im Besonderen auf Gottfried Silbermanns Stimmungen ein und schlägt
in seinem Abschnitt über Bachs WK eine selbst entwickelte, von der ersten
silbermannschen Stimmung abgeleitete Temperatur vor.
Die Thesen Kelletats kritisiert Manfred Tessmer in seinem 1997 gedruckten Vortrag
von 1993 in zentralen Punkten. Er wirft Kelletat eine ideologisch gefärbte
Interpretation der Quellen und das Fehlen von Evidenz vor. Er bringe keine stichhaltigen
Beweise für eine ungleichstufige Bach-Temperatur28,
sondern spreche von positiven subjektiven Hörerlebnissen von Bachs Musik
in Kirnbergers Stimmung29; das ist für
ihn keine Grundlage für ein wissenschaftliches Forschungsergebnis.
Dazu bringt er weitere, nicht mit Kelletats Argumentationslinie zu vereinbarende
Quellen. Einerseits weist er darauf hin, dass schon Werckmeister in einem 1697
erschienenen Memorial30 die
gleichstufige Temperatur (da ... alle quinten 1/12 eines commatis herunter
schweben) nicht nur beschreibt, sondern auch meint, diese gäbe dann
eine gute und richtige temperatur. Und auch in seinem 1707 postum erschienenen
Buch Musicalische Paradoxal-Discourse31 bekennt er, dass er schon vor 30. Jahren ... auf diese Temperatur gedacht
habe. Und er ist überzeugt, dass, ... wenn die Temperatur also eingerichtet
wird / ... / so dann gewiss eine wohl temperirte Harmonia, durch den gantzen
Circul und durch alle Claves sich finden wird.
Insgesamt geschieht Tessmers Kritik zu Recht. Dabei soll aber Kelletats Verdienst
nicht geschmälert werden, mit seiner eigentlichen Antithese zur damals
gängigen Meinung, Bach habe gleichstufig gestimmt, den Anstoss zu einem
fruchtbaren Wissenschaftsstreit gemacht zu haben.
Wol temperirt
Es stellt sich die Frage nach der historischen Begrifflichkeit: Was heisst in
diesem Zusammenhang wol temperirt? Hier setzen die verschiedenen
Meinungen, insbesondere Kelletat, an und versuchen zu beweisen, dass zu jener
Zeit unter wohltemperiert ungleichstufig temperierte Stimmungen verstanden wurden.
Wir erinnern uns aber, dass Werckmeister schon 1697 von der gleichstufigen Stimmung
als einer gute[n] und richtige[n] temperatur spricht, wobei hier
gut und richtig durchaus in die Nähe von wol
zu setzen sind, diese Stimmung für ihn also sicherlich dazugehört32.
Insofern ist Tessmer beizupflichten, als er die Forschung kritisiert, heutzutage
die gleichstufige Stimmung von der Gruppe der historischen wohltemperierten
Stimmungen fast kategorisch auszunehmen33.
In der Tat geschieht dies genauso kategorisch, wie zuvor das Gegenteil angenommen
wurde.
Als wohltemperiert bezeichnet werden können deshalb alle um
Ausgleich im ganzen Quintenzirkel bemühten, ungleichstufigen sowie gleichstufigen
temperierten Stimmungen.
Alt und Neu
Die folgenden beiden Zitate können die Schwierigkeiten veranschaulichen,
die der Entwicklung neuer musikalischer Temperaturen den Weg versperrten: Wenn
Werckmeister im Musicalischen Paradoxal-Discourse beschreibt, wie
er bezüglich seines Vorschlages der gleichstufigen Stimmung von etliche[n]
Ignoranten verfolget wurde und leiden musste34 und Johann Kuhnau noch 1718 schreibt, dass ihm die gleichstufige Stimmung Neidhardts im Übrigen ... sehr wohl gefalle, dass er aber noch kein
Werck von einem habilen Instrument- oder Orgelmacher darnach eingerichtet angetroffen habe35, deutet das auf die Spannung zwischen
Althergebrachtem und Neuem hin, von der die Entwicklung geprägt war.
Irgendetwas scheint die Musiker an der gleichstufigen Stimmung gestört
zu haben. Hier sei die Überlegung angebracht, dass Temperatur
als langsame Entwicklung des pythagoräischen, und dann mit
der Wendung zum Wohltemperierten als Entwicklung des mitteltönigen
Systems im historischen Kontext nicht nur als willkommener Fortschritt, sondern
genauso als eine Aufgabe alter Traditionen erscheinen konnte. Der Streit um
die richtige, gute Temperatur rief deshalb zwangsläufig Polemiken
hervor, die zwischen sanften (z. B. Kirnberger) und radikalen Erneuerern (Anhängern
der gleichstufigen Stimmung wie Marpurg oder Sorge) ausgetragen wurden.
Auch ist denkbar, dass beispielsweise Organisten, deren Instrumente nicht einfach
umzustimmen waren, auf das gesamte mitteltönige Repertoire zurückgreifen
können mussten und so in der Orgelstimmung ein retardierendes Moment herrschte,
was die gleichstufige Temperatur angeht. Cembali und Clavichorde hingegen waren
leichter umzustimmen und eigneten sich deshalb für Temperatur-Experimente.
Stimmpraxis
Hier muss ein Blick auf die Stimmpraxis geworfen werden. Jorgensen betont in
seinem Buch Tuning ..., in welchem er in einer chronologischen Liste
von Dutzenden Stimmungen eine eigentliche Geschichte der Stimmanweisungen bietet,
immer wieder, welchen Schwierigkeiten die Zeitgenossen Bachs beim Versuch, exakt
gleichstufig zu stimmen, unterworfen waren36.
Mit dem Fehlen von Stimmgeräten und Frequenzmessern bis tief ins 20. Jahrhundert
hinein benutzten Stimmer neben dem Gehör etwa Metronome, um die Frequenz
der Schwebungen zu bestimmen37 bzw. Monochorde.
Auch Werckmeister preist die Vorzüge der gleichstufigen Stimmung mit Vorbehalt:
Die Menschen würden jubiliren wenn ... ein accurates
Ohr dieselbe auch zum Stande zubringen / und zustimmen weiss ...38
Rein schon die Anzahl und Länge der Stimmanweisungen im 18. und 19. Jahrhundert
zeigt, wie sehr Theorie und Praxis der gleichstufigen Stimmung auseinander klafften39.
Dagegen beschreibt Jorgensen Kirnbergers Temperatur II als the easiest
temperament to tune that was ever published40.
Forkel schreibt über Bach, dass er seinen Flügel und sein Clavichord
immer selber stimmte: ... und er war so geübt in dieser Arbeit, dass
sie ihm nie mehr als eine Viertelstunde kostete. ...41 Es stellt sich die Frage, ob es möglich ist, ein Clavichord oder Cembalo
in einer Viertelstunde gleichstufig zu stimmen ein Indiz, das für
Kirnberger spricht? Oder hatte Bach eine eigene Methode?
IV. Hörbeispiele
Im Zusammenhang mit dieser Arbeit habe ich eine Reihe von Hörbeispielen
erstellt 42. Sie umfassen die As-Dur-Fuge
BWV 886 aus dem Wohltemperierten Klavier II und deren Frühversion, die
Fughetta in F-Dur BWV 901 aus den Fünf Präludien und Fughetten. Die
Auswahl kam folgendermassen zustande: Ich suchte ein Stück aus dem WK,
das eine Frühversion in einer anderen Tonart besass. Dafür kamen einige
Präludien und Fugen aus dem zweiten Band in Frage. Die gewählte Fuge
überzeugte, da sie mit der Fughetta eine gesicherte Herkunft hat und da
sie mit As-Dur eine bezüglich der zu untersuchenden Stimmungen interessante
Tonart aufwies.
Auf die Theorien der Tonartenästhetik soll in diesem Zusammenhang nicht
eingegangen werden, da deren Rezeption bzw. Anwendung durch Bach nicht gesichert
ist43. Ausserdem macht etwa Mattheson keine
Angaben für das hier vorliegende As-Dur. Jacques Handschin äussert
die berechtigte Vermutung, dass Bach diesbezüglich nicht in hohem
Grade feinfühlig gewesen sei, da er wie im hier behandelten
Fall viele Klavierstücke im Hinblick auf Einverleibung ins WK II
transponierte.
Gerade aus Mangel an handfesten Beweisen, dass Bach auf seinen Clavieren die
eine oder andere Stimmung benutzte, bieten die Aufnahmen dem Leser nun die Möglichkeit,
anhand der ausgewählten Stücke mit ihren unterschiedlich heiklen
Tonarten als Hörer einen eigenen Eindruck, eine eigene Präferenz zu
entwickeln.
Die Beispiele erklingen in fünf verschieden gestimmten Versionen: in Werckmeister
III, Kirnberger II, Kirnberger III, der Bach-Stimmung Kelletats
und der gleichstufiger Stimmung44. Die
jeweilige Reihenfolge ist: Fughetta in F-Dur, dann zwei Kadenzen eine
in F-Dur und eine in As-Dur als Kontrolle für die Unterschiede des Tonartcharakters,
der Akkordintervalle und zum Schluss die Fuga in As-Dur. Hinter den Links
in der folgenden Liste stecken MP3-Files vorerst nur mit den Kadenzen in F und
As in den einzelnen Stimmungen
Im Folgenden seien meine subjektiven Höreindrücke beschrieben:
Bibliografie und Fussnoten sind hier nicht enthalten, jedoch sende ich allen Interessierten ein PDF der vollständigen Arbeit inkl. Bibliografie, Fussnoten und Links zu allen MP3-Hörbeispielen gegen eine Bearbeitungsgebühr gerne zu.
Die Aufnahmen können Sie auch als CD unter obiger E-mail-Adresse bestellen.